Rolle der Darmflora bei MS bisher unterschätzt?

Rolle der Darmflora bei MS bisher unterschätzt?

Ein internationales Forscherteam findet einen möglichen Antikörper als Auslöser für die Multiple Sklerose. Entstehen könnte dieser im Darm.

In jüngster Zeit wird Multiple Sklerose immer häufiger mit der Darmflora, dem Mikrobiom, in Zusammenhang gebracht (letzter AMSEL-Bericht dazu). Auch die hier vorliegende Untersuchung sieht den Auslöser im Darm – und findet einen passenden Verursacher im Zentralen Nervensystem.

Dass die Myelinschicht bei Multipler Sklerose zerstört wird, weiß man seit langem. Auch geht man mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Autoimmungeschehen aus, also dem Umstand, dass es nicht etwa Bakterien oder Viren von außen sind, welche das Myelin zerstören, sondern körpereigene Abwehrzellen. Unter den zugelassenen immunmodulierenden Wirkstoffen sind solche, die sich gegen T-Zellen wie gegen B-Zellen richten. Welcher Stoff es aber ist, der zum Untergang des Myelins führt, ist bis heute unklar. Gesucht wurde naheliegender Weise häufig bei Myelinkomponenten. Anders hier.

Myelin indirekt angegriffen

Die aktuellen Ergebnisse scheinen „den“ Verursacher näher eingrenzen zu können und finden ihn nicht bei Myelin-zerstörenden T-Zellen, sondern in einem Enyzym namens GDP-L-Fucose-Synthase, das wiederum von T-Zellen unterdrückt wird. Dieses Eiweß bilden sowohl menschliche Zellen als auch Bakterien, die im Darm von MS-Betroffenen gehäuft vorkommen. Die Forscher um Mireia Sospedra und Roland Martin vom Klinischen Forschungsschwerpunkt Multiple Sklerose der Universität Zürich vermuten, dass im Darm aktivierte T-Zellen ihren Weg in das Gehirn finden und dort – fälschlicherweise – das vom Körper gebildete Enzym angreifen, also nicht etwa direkt das Myelin. Das Enzym wird jedoch, so die Vermutung, für die Myelinbildung benötigt. Fehlt es, nimmt die Myelinschicht Schaden. Sie wird, laienhaft formuliert, „ausgehungert“. Die Folge: Multiple Sklerose.

Geholfen hat dem Forscherteam, so berichtet die Neue Züricher Tageszeitung, dass sie die Angreifer auf frischer Tat, also während der Entzündung, ertappen konnten. Dies war nur möglich durch die Organspende einer MS-Patientin, die an den Folgen ihrer Multiplen Sklerose gestorben war. In ihrem Gehirn fanden die Forscher zahlreiche T-Zellen mit ein und demselben Rezeptor: dem für die GDP-L-Fucose-Synthase. Auch in den Liquorproben von lebenden MS-Patienten waren diese Abwehrzellen vertreten. Und der Rezeptor passte zu den bereits erwähnten Darmbakterien.

Das Immunsystem lernen lassen

So kompliziert das klingt und so weit entfernt daraus resultierende Therapien erscheinen mögen, so sehr könnte dieser Fund die Therapie der MS doch verändern: weg von einer eher unspezifischen Immunsuppression hin zu einer ganz gezielten Umerziehung des Immunsystems. Mittels angeklebter Fragmente soll das Immunsystem von MS-Patienten lernen, den angeblichen Feind (das Enzym im Gehirn) zu akzeptieren. Eine Therapie, welche, so die Hoffnung der Forscher, weniger Nebenwirkungen verursacht als Immunsuppressiva.

Die Forschungsergebnisse zeigen außerdem, wie komplex MS-Forschung ist. Die Anstrengungen vieler Forscher aus verschiednenen Ländern waren vonnöten, um zu dem aktuellen Stand zu gelangen, unter anderem diese, wie die Neue Zürcher Zeitunghervorhebt:

  • 2017 zeigte eine Zwillingsstudie, dass eine Stuhltransplantation von MS-betroffenen Zwillingen auf Mäuse die Tier-MS fördert (amsel.de hatte berichtet).
  • Im April 2018 zeigte ein weiteres Forscherteam, dass Probiotika die Darmflora verändern und so eine MS-Therapie ergänzen könnten.
  • Nun, im Oktober 2018, konnte das Team um die Schweizer Forscher das Eiweißenzymfinden.

Quelle: Science Translational Medicine, 10.10.2018.

Redaktion: AMSEL e.V., 13.10.2018